Vielfalt sichert nicht nur unsere biologische, sondern auch unsere wirtschaftliche Zukunft.
Das wusste schon ein Stadtpfarrer vor 165 Jahren.
Schauen wir uns diesen Visionär einmal genauer an…
Wochenblatt für Land- und Forstwirtschaft von 1853
Möglich gemacht hat das Matthias Braun aus Hemmingen. Er fand bei seinen Recherchen ein spannendes Zeitzeugnis, welches ich Ihnen nicht vorenthalten kann.
Es handelt sich um einen Bericht in einem Wochenblatt für Land- und Forstwirtschaft aus dem Jahr 1853.
Es führt uns gerade noch in eine ganz spannende Zeit hinein. Denn der deutsche Weinbau baut noch Rebsorten an, die in den kommenden hundert Jahren größtenteils verloren gehen werden!
Das Datum macht dieses Zeitzeugnis extrem spannend
Wir schreiben das Jahr 1853. In den kommenden 100 Jahren werden Krisen und Kriege den Weinbau schlagartig verändern. Nicht nur viele Menschen werden sterben, sondern nachweislich auch über 300 Rebsorten verschwinden.
Wenn sich unser Stadtpfarrer an seine vergangenen 40 Jahre erinnert, schaut er auf eine ausgesprochen kühle Klimaphase zurück, die sich gerade langsam wieder erwärmt. Der Weinanbau kann sich von den Strapazen der „Kleinen Eiszeit“ erholen.
Zwei Naturkatastrophen vernichten unsere jahrtausendalte Vielfalt…
Aber leider steht der Stadtpfarrer Steeb nichtsahnend kurz vor zwei Katastrophen, die den europäischen Weinanbau heimsuchen werden:
- Mehltau
Die gerade aus Amerika nach Europa eingeschleppten Mehltaupilze werden in seiner Region zu einer Mehltaukrise führen. Seine Winzerschaft muss hohe Ertragseinbußen verkraften. Die hochempfindlichen Weinreben werden durch die aggressiven Pilze stark geschädigt. Der gesamten europäischen Winzerschaft steht eine wirtschaftliche Katastrophe bevor.
Zur Erforschung und Bekämpfung der Pilze wird man amerikanische Rebsorten einführen und anpflanzen. Die „Amerikaner“ besitzen eine natürliche Resistenz gegen die in Amerika heimischen Mehltaupilze. Doch damit wird ein zweites, noch viel schlimmeres Unheil importiert! - Reblaus
An den mehltauresistenten Pflanzen befindet sich ein tierischer Schädling, der den europäischen Weinbau fast komplett vernichten wird. Die Reblaus!
Erst Jahre später wird man durch die Pflanzung veredelter, resistenter Weinstöcke der inzwischen heimisch gewordenen Reblaus Herr werden.
Die neue „Herstellungsmethode“ von Weinreben (Rebenveredlung) wird den angestrebten sortenreinen Weinbau zusätzlich forcieren.
… und zwei Weltkriege verändern den Weinanbau
Zu guter Letzt werden zwei Weltkriege folgen. Einschneidende Ereignisse, die nochmals starken Einfluss auf den gesetzlich vorgeschriebenen Rebsortenanbau haben. In Zeiten wo man die geschundenen und zerstörten Weinberge wieder neu bepflanzen muss, wird die Sortenauswahl in der Zeit der NS auch noch politisch beeinflusst werden! Ebenso wird man bei der Erstellung der gesetzlichen Sortenliste nach dem 2. Weltkrieg eine andere Vorstellung von „Qualität“ haben. Denn es galt ein kriegsgeplagtes und hungerndes Volk zu versorgen.
Durch Kriege, Krisen, Katastrophen, also durch Menschenhand (!), wird es in den nächsten 100 Jahren zu einer geschichtlich einmaligen Dezimierung von damals noch im Weinbau befindlichen Rebsorten kommen!
Wie war der Weinbau im Jahr 1853?
- Jahrtausendalter Mischsatz-Anbau ermöglicht großen Sortenreichtum
Vor 170 Jahren waren die sog. Mischsätze noch üblich. Das bedeutet ein Weinberg bestand nicht aus einer einzigen, sondern aus verschiedenen Rebsorten mit sehr unterschiedlichen, ja sogar oftmals gegensätzlichen Eigenschaften. 10 – 40 Sorten in einem Weinberg waren normal. Zum einen galt dies der Risikostreuung, zum anderen war dieser „wahllose“ Anbau aber auch zweckgebunden.
Größere Weinbergsbesitzer und Klöster, die größere Weinbergsflächen bewirtschafteten, hatten die Voraussetzung erste Weinberge sortenrein zu bepflanzen. In diesem Zusammenhang dachte unser Pfarrer auch schon über wirtschaftlichere Erziehungsmethoden nach.
Die spätere Mechanisierung wird auf die Anbauweise noch mehr Einfluss nehmen. Es wird eine enorme Produktivitätssteigerung und Wohlstand entstehen.
(Anmerkung: Der heute übliche sortenreine Weinanbau ist noch gar nicht so alt!) - Winzer hatten noch den Zehnten an ihren Herrn zu entrichten.
Pfarrer Steeb spricht vom Zehnten. Für einen Weinbauern bedeutete dies eine naturale Abgabe an seinen Herrn. Weil Winzer diese Steuer mit den reichtragenden Sorten abgolten, sieht der Pfarrer die Abschaffung des Zehnten als Voraussetzung „edlere“ Rebsorten zu pflanzen, um „vorzügliche“ Weine zu gewinnen. Auch in diese Richtung denkend war unser Pfarrer ein Visionär. - Fachliche Bildung der Winzerschaft wurde immer wichtiger.
Unser weitsichtiger Pfarrer sieht Bildung als Voraussetzung für einen Qualitätsanbau. Er erwähnt bereits am Beginn die „Anstalt“ in Hohenheim. Die heute sehr namhafte Universität wurde nach katastrophalen Missernten und Hungersnöten 45 Jahren zuvor gegründet (1818). Die heutige Universität ist wegen ihrer Agrarwissenschaften weltbekannt!
Durch (Weiter-) Bildung wird der Bauer zum „Handwerker“!
Ein Pfarrer als Visionär
Unser Stadtpfarrer schreibt auf drei Seiten über den aktuellen Weinanbau. Er hinterfragt die Anbaumethoden, die für den zukünftigen Wohlstand entscheidend sein werden.
Er beschreibt bekannte aber auch einige heute unbekannte Rebsorten.
Pfarrer Steeb besitzt ein Wissen von heimischen Ursorten, die uns heute, selbst in der Fachwelt, nichts mehr sagen!
Unser Visionär strebt nach einem zukunftssichernden, qualitätsorientierten Weinanbau.
Eine gute Ausbildung und die Abschaffung des Zehnten sieht er als eine gute Voraussetzung, die angebauten Rebsorten zu überdenken.
Er schätzt die vorhandene Vielfalt! Denn „tausende“ von „edlen“ Rebsorten wurden unentgeltlich an Winzer verteilt, um sie für das angestrebte Ziel zu testen.
Wie würde Pfarrer Steeb wohl meine Frage beantworten?
Sind wir mit unseren heute im Anbau befindlichen Rebsorten auf die immer wieder prophezeite Klimaveränderung gut vorbereitet?
Kurzer Blick auf einige Sortenbeschreibungen
- Wer kennt noch die Sorten der Welschen?
Zum Beispiel gehört unser Schwarzurban, wie auch der Trollinger (Schwarzwelsche) zu den Welschensorten.
Unser 2016-er Rotweincuvée besteht zu 40% aus Schwarzurban.
(Anmerkung: Noch vor zwei Jahren galt der Schwarzurban offiziell im baden-württembergischen Weinbau, im Heimatland des Trollingers, als nicht existent.) - Der Blaue Muskateller, nicht zu verwechseln mit dem Roten Muskateller oder dem Rosenmuskateller, findet heute gerade wieder seinen Weg zurück in den Weinanbau. Als Rosé steht er in unserer Vinothek „Schmecken Sie Geschichte“ zum Verkauf.
- Riesling besitzt, wie bekannt, seine Vorteile bei Spätfrösten, gehört aber in seiner Betrachtung zu den ertragsreichen Sorten?
- Der Blaue Portugieser, den wir heute als regional bedeutende Rebsorte ansehen, ist damals noch unbekannt. Ist er autochthon?
- Als Fachmann erkennen Sie in den Sortenbeschreibungen teilweise widersprüchliche Eigenschaften, die heute gar nicht so gesehen werden.
Hat das vielleicht damit zu tun, dass man früher die Namensgebung auch auf Sortengruppen bezog oder andere Rebsorten meinte?
Schließlich haben wir bei der historischen Aufarbeitung immer wieder unsere Mühe mit Synonymen und Homonymen. - Den Ausführungen des Pfarrers auf der letzten Seite folgend und aus hochaktueller Sicht, stellt sich mir die Frage: Ist jetzt der „Gemischte Satz“ (= Mischsatz!) oder der sortenreine Weinanbau qualitätsfördernd?
- Iverdoner = Gamay
- Aufgrund der Synonymie und ihrer Ähnlichkeit handelt es sich bei den Klevners vermutlich um den Fränkischen Burgunder und den Schwarzblauen Riesling. Beide 2018-er reifen momentan im Barrique. Den 2017-er Fränkischen Burgunder können Sie demnächst in unserer Online-Vinothek bestellen.
(Tipp: Zum Newsletter anmelden und ein Entdecker werden. Dann werden Sie rechtzeitig vor dem Verkaufsstart informiert!)
Befasst man sich detaillierter mit „unserer“ weinbaulichen Vergangenheit, stellen sich immer neue Fragen.
Man bekommt immer mehr Zweifel an die heute teilweise in Stein gemeißelten Fakten.
Ergänzung
Lesen Sie auch zwischen den Zeilen dieses Wochenblattes und Sie entdecken Respekt, Demut und Wertschätzung gegenüber der Landwirtschaft.
Lieber Leser: „Wie schaut unsere heutige Gesellschaft auf ihre elementar wichtige Landwirtschaft, die uns durch einen hohen Produktivitätsfortschritt zu Wohlstand verholfen hat?“
Fazit
Auch weil wir uns im Rahmen des sortenreinen Weinanbaus, aus betriebswirtschaftlichen und marktwirtschaftlichen Gründen, auf wenige Sorten konzentriert haben, ist uns das Interesse und somit auch das Wissen um diese wertvollen, klimaerprobten Rebsorten verloren gegangen.
Doch der Weinstock ist das Fundament eines ganzen Berufsstandes.
Ist es nicht existenziell wichtig, seine natürliche Vielfalt optimal zu nutzen?
Deshalb sollte eine zukunftsorientierte Winzerschaft all ihre heimischen Rebsorten bestens kennen, um sie zielgerichtet einsetzen zu können.
Bezug nehmend auf die Überschrift erweitere ich diesen Gedanken und beende diesen Beitrag mit dem Zitat eines großen, deutschen Gelehrten:
„Nur wer die Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft!“
(Wilhelm v. Humboldt)
Nochmals vielen Dank an Matthias Braun und viel Spaß beim Lesen!